Wie funktioniert eine psychische Gefährdungsbeurteilung?

Erstellt am 19.01.2024 aktualisiert am 19.01.2024
Dr. Simon   Hahnzog
Psychologe Dr. Simon Hahnzog
Fachkompetenz: Psychologie

Maßkonfektion: Die psychische Gefährdungsbeurteilung muss zum Unternehmen passen!

Die psychische Gefährdungsbeurteilung ermöglicht es einem Unternehmen, Risikofaktoren bei der Arbeit zu entdecken und zu verringern und Resilienzfaktoren zu stärken. Dazu muss die psychische Gefährdungsbeurteilung an die Bedürfnisse und Möglichkeiten des Unternehmens angepasst und fachgerecht durchgeführt werden. Dabei sollten alle Mitarbeiter*innen die Möglichkeit zur Teilhabe bekommen und der Prozess und die Ergebnisse so transparent wie möglich kommuniziert werden.

Meine Meinung

Mitarbeiter*innen sollten schon früh die Möglichkeit haben, sich über das konkrete Konzept der psychischen Gefährdungsbeurteilung zu informieren. Dabei ist entscheidend, dass von allen Beteiligten ein ergebnisoffenes Verfahren angestrebt wird. Der Grundsatz sollte lauten: Betroffene zu Beteiligten machen. In meiner langjährigen Arbeit für eine Vielzahl von Unternehmen fällt auf, dass es oft an folgenden Punkten hängt, ob eine psychische Gefährdungsbeurteilung erfolgreich wird: Mitarbeiter*innen sollten schon früh die Möglichkeit haben, sich über das konkrete Konzept der psychischen Gefährdungsbeurteilung zu informieren. Dabei ist entscheidend, dass von allen Beteiligten ein ergebnisoffenes Verfahren angestrebt wird. Neugier auf die Ergebnisse ist ein guter Garant für einen Prozess, der später auch zu Maßnahmen führt, die vom Unternehmen umgesetzt werden. Der Grundsatz sollte lauten: Betroffene zu Beteiligten machen. Die große Chance der psychischen Gefährdungsbeurteilung liegt darin, als Anstoß für einen positiven Changeprozess gesehen zu werden. Jede Organisation hat das Bedürfnis sich weiterzuentwickeln und die psychische Gesundheit der Mitarbeiter*innen ist in vielen Unternehmen ein wesentliches Kapital, das es zu schützen gilt. Was dies für jedes Unternehmen zielgenau heißt, ist meine Leidenschaft.

Dr. Simon Hahnzog
Psychologe Dr. Simon Hahnzog
Fachkompetenz: Psychologie

Wie funktioniert eine psychische Gefährdungsbeurteilung?

Was ist bei einer psychischen Gefährdungsbeurteilung zu beachten?

Was ist bei der Gestaltung einer psychischen Gefährdungsbeurteilung zu beachten, damit diese auch wirksame Ergebnisse hervorbringt? Zunächst sind dafür zwei zentrale Begriffe und deren Bedeutung wesentlich: Belastung und Beanspruchung. Unter Belastung bei der Arbeit werden die von außen auf die Beschäftigten wirkenden Rahmenbedingungen verstanden – unter Beanspruchung die individuellen Auswirkungen dieser Belastung auf die bzw. den Einzelnen (Glaser & Herbig 2012).

Was untersucht eine psychische Gefährdungsbeurteilung?

Die psychische Gefährdungsbeurteilung untersucht die Belastung bei der Arbeit, insbesondere Arbeitsinhalt-/aufgabe, Arbeitsorganisation, soziale Beziehungen und Arbeitsumgebung (vgl. BAuA 2014, GDA 2015). Die Beteiligung der Mitarbeiter*innen während des gesamten Prozesses und eine transparente Prozessgestaltung stellen zentrale Kriterien für die Erfolgsaussichten einer psychischen Gefährdungsbeurteilung dar.

Was ist in der Vorbereitung und Planung einer psychischen Gefährdungsbeurteilung zu beachten?

Bei der Vorbereitung einer psychischen Gefährdungsbeurteilung sollte große Sorgfalt auf die Auswahl der zu erhebenden Arbeits-/Tätigkeitsbereiche gelegt werden. Die Planung dieses Prozesses sollte durch eine Steuergruppe gestaltet werden, die sich aus Beteiligten des Unternehmens zusammensetzt – neben der/dem Prozessverantwortlichen, insbesondere mit Beteiligung der Fachkraft für Arbeitssicherheit, des Betriebs- oder Personalrates, Betriebsarztes und vor allem einem Mitglied der Geschäftsführung.

Wie ist die psychische Gefährdungsbeurteilung durchzuführen?

Die Gestaltung einer psychischen Gefährdungsbeurteilung ist nicht näher gesetzlich geregelt – sie muss allerdings “fachgerecht” (§3 ArbStättV) durchgeführt werden. Welche Kombination aus Erhebungsverfahren Sinn für das einzelne Unternehmen macht, muss jedes Unternehmen für sich entscheiden.

 

Wie entscheidet man, welche Ansätze einer psychischen Gefährdungsbeurteilung am sinnvollsten sind?

Maßgeblich sind zwei Fragen, die sich das Unternehmen vorab beantworten sollte:

  1. Welches Ziel verfolgt das Unternehmen mit der Durchführung einer psychischen Gefährdungsbeurteilung? Je nachdem, ob es lediglich um die Erfüllung der gesetzlichen Mindestanforderungen gehen soll oder um eine hohe und nachhaltige Wirksamkeit sind verschiedene Ansätze sinnvoll.
  2. Welches Budget und Personal hat das Unternehmen für die psychische Gefährdungsbeurteilung zur Verfügung?

Welche Verfahren sind zu empfehlen?

Es liegen zahlreiche standardisierte Verfahren zur (teilweisen) Gestaltung einer psychischen Gefährdungsbeurteilung vor. Der Unterschied liegt häufig im Detail. Unabhängig mit welchem methodischen Verfahren die psychische Gefährdungsbeurteilung umgesetzt wird, sollte ermöglicht werden, dass ALLE Mitarbeiter*innen ihre Einschätzung der Rahmenbedingungen ihrer Arbeit und der psychischen Arbeitsbelastung einbringen können.

Es gibt drei wesentliche Wege, um die Datenerhebung in der psychischen Gefährdungsbeurteilung zu gestalten. Eine Verhältnisanalyse, also eine Einschätzung der Rahmenbedingungen und somit der psychischen Belastungsfaktoren bei der Arbeit. Diese muss in jedem Fall Bestandteil einer psychischen Gefährdungsbeurteilung sein. Zusätzlich können weitere Verfahren wie Verhaltensanalyse oder Zirkuläranalyse ergänzend hinzugezogen werden:

Was ist bei der Verhältnisanalyse zu beachten?

Die Verhältnisanalyse beschäftigt sich mit den Rahmenbedingungen der Arbeit im Unternehmen und ist wesentlicher Bestandteil der Datenerhebung der psychischen Gefährdungsbeurteilung. Es empfiehlt sich, die Verhältnisanalyse mittels Fragebogen mit allen Beschäftigten durchzuführen. Online-gestützte Fragebögen sind dabei effektiv, wirtschaftlich und wirksam zugleich. Für Beschäftigte ohne Bildschirmarbeitsplatz sollte auch eine Print-Version des Verfahrens zur Verfügung stehen und branchen- oder unternehmensspezifische Fragestellungen sollten bei Bedarf ergänzt werden können.

Die Anforderungen der GDA-Leitlinien (GDA 2015) und der BAuA (2014), sollten durch das Verfahren unbedingt erfüllt sein. Nicht zuletzt sollte der Fragebogen den Kriterien der DIN-Norm 10075-3 entsprechen. Den Mitarbeiter*innen sollte ein Zeitfenster von etwa zwei bis vier Wochen zur Verfügung stehen, um sich an der Befragung zu beteiligen.

Was ist bei der Verhaltensanalyse zu beachten?

Im Gegensatz zur Verhältnisanalyse geht es bei diesem diagnostischen Schritt weniger um die Rahmenbedingungen, sondern um den eigenen Umgang mit der Arbeit. Anders ausgedrückt: Die Verhältnisanalyse erhebt die Belastung, die Verhaltensanalyse die Beanspruchung. Auch hier bieten sich Fragebögen, insbesondere online-gestützte Verfahren an. Vor allem neueste automatisierte Online-Lösungen zur Prävention und Intervention bei psychischer Belastung versprechen hier bereichernde Zugänge zur Verhaltensanalyse (bspw. AVEM-Fragebogen von Schaarschmidt & Fischer oder das FSW-Resilienz-Profil von Hahnzog verfügbar unter www.pgaonline.de).

Was der Vorteil der Zirkuläranalyse?

Qualitative Interviews mit ausgewählten Mitarbeiter*innen können eine psychische Gefährdungsbeurteilung als dritte Säule ergänzen. Dadurch wird die bedeutsame Lücke gefüllt, die quantitative Fragebögen nicht leisten können: Inhaltliche Impulse zu ermitteln, die aus der Perspektive der Beteiligten den direkten Bezug zu den täglichen Herausforderungen schildern. Im strategischen Beratungsprozess zur psychischen Gefährdungsbeurteilung, der wirtschaftspsychologische und systemische Beratungsansätze verbindet, wird dieses Vorgehen als „Zirkuläranalyse“ bezeichnet, da aus den verschiedenen Blickwinkeln der Beteiligten auf die Belastungen bei der Arbeit geblickt wird (mehr Informationen unter: www.simon-hahnzog.de).

Wie werden die Empfehlungen einer psychischen Gefährdungsbeurteilung entwickelt?

Aus allen Erhebungen – je nachdem, ob ein, zwei oder drei Diagnoseverfahren eingesetzt wurden – werden die psychischen Gefährdungen wie auch vorhandene Resilienzfaktoren im Unternehmen abgeleitet und auf dieser Basis Empfehlungen für den weiteren Arbeitsschutz gegeben. Je nach Diagnoseverfahren werden diese mehr mit quantitativen oder ergänzend mit qualitativen Methoden entwickelt. Bei der Maßnahmenfestlegung sollte darauf geachtet werden, dass nicht nur Verhaltensprävention (wirkt auf das Verhalten der einzelnen Mitarbeiter*innen) sondern vor allem Verhältnisprävention gestaltet wird (wirkt auf die Prozesse, Strukturen, Kultur und Normen im Unternehmen). Führungskräfte als zentrale Multiplikatoren sollten die zentrale Zielgruppe der ersten Maßnahmen darstellen. Und nicht zuletzt: Weniger ist mehr! Lieber wenige, kleine Maßnahmen und Veränderungen, die zielgerichtet wirken können, als ein buntes Feuerwerk zu zünden. Letzteres ist zwar schön, letztendlich bleiben aber meist nur Schall und Rauch.

Was sollte ein Unternehmen nach einer psychischen Gefährdungsbeurteilung erhalten?

  1. Ein Bericht in Form einer schriftlichen Dokumentation der psychischen Gefährdungsbeurteilung (vgl. §6 ArbschG).
  2. Dieser Bericht sollte zusätzlich in einer Präsentation vorgestellt und besprochen werden.
  3. Entscheidend ist die gemeinsame Reflexion mit der Steuergruppe über die Erkenntnisse spezifischer Risiko- und Resilienzfaktoren und die empfohlenen Maßnahmen für den Arbeitsschutz.
  4. Die Mitarbeiter*innen sollten, am besten aus erster Hand, eine zusammenfassende Vorstellung der wesentlichen Ergebnisse und der nächsten Schritte erhalten.

Wie geht es nach einer psychischen Gefährdungsbeurteilung weiter?

Die Bezeichnung Gefährdungs-Beurteilung kann insofern falsch verstanden werden, da manche Unternehmen davon ausgehen, dass die psychische Gefährdungsbeurteilung nach der Durchführung der Datenerhebung abgeschlossen wäre. Diese Irreführung liegt an unterschiedlichen Beschreibungen in Arbeitsschutzgesetz und GDA-Leitlinien (vgl. GDA 2015; siehe auch BAuA 2013). In jedem Fall schafft die eigentliche Beurteilung aber „nur“ die Grundlage für die weitere Maßnahmengestaltung zum psychischen Arbeitsschutz. Sobald vorhandene Fehlbelastungsfaktoren im Unternehmen herausgestellt wurden, geht die Arbeit im BGM also erst richtig los. Denn Sinn und Ziel der psychischen Gefährdungsbeurteilung ist es, die psychische Belastung der Mitarbeiter*innen in einem normalen Rahmen zu halten und Arbeitsausfälle aufgrund von psychischen Belastungen zu reduzieren.

Was ist der Vorteil einer psychischen Gefährdungsbeurteilung?

Neben der Einhaltung der gesetzlichen Vorgabe liegt der größte Vorteil dieses Vorgehens darin, dass die entwickelten Maßnahmen zur betrieblichen Gesundheitsförderung/zum psychischen Arbeitsschutz, nicht mehr „einfach drauflos“ gestaltet werden müssen, sondern auf Basis der Ergebnisse der psychischen Gefährdungsbeurteilung zielgerichtet dort festgelegt und umgesetzt werden können, wo auch ein entsprechender Bedarf besteht. Damit lässt sich für Mitarbeiter*innen der größtmögliche Schutz und für Unternehmen der sinnvolle Einsatz von Mitteln gewährleisten.

Was sind die ersten Maßnahmen nach einer psychischen Gefährdungsbeurteilung?

Als erste Maßnahmen im Nachgang zur psychischen Gefährdungsbeurteilung empfehlen sich einerseits die weiter oben angesprochenen Rückmeldeveranstaltungen für alle Mitarbeiter*innen. Durch die transparente Darstellung der zentralen Ergebnisse und der weiteren Prozessschritte wird allen Beschäftigten deutlich, dass hier ein fortlaufender Prozess der Organisationsentwicklung angestoßen und gestaltet wird. Im Idealfall wird glaubhaft vermittelt, dass psychische Gesundheit bei der Arbeit auch von der Unternehmensführung als wichtig angesehen wird und nur mit gemeinschaftlicher Verantwortung sichergestellt werden kann. Zum Schutz der Arbeitnehmer*innen und zum Erhalt der Arbeitskraft für das Unternehmen.

Quellen

  • BAuA – Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (2014). Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung – Erfahrungen und Empfehlungen. Berlin: ESV.,
  • Glaser, J. & Herbig, B. (2012). Modelle der psychischen Belastung und Beanspruchung. In: E. Demerouti, A. Fergen, J. Glaser, B. Herbig, A. Hofmann F. Nachreimer, L. Packebusch & K. Seiler (Hrsg.). Psychische Belastung und Beanspruchung am Arbeitsplatz. Berlin: Beuth.,
  • GDA – Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie (2015). Leitlinie Beratung und Überwachung bei psychischer Belastung am Arbeitsplatz. Verfügbar unter: http://www.gda-portal.de,
  • Hahnzog, S. (2015). Psychische Gefährdungsbeurteilung – Impulse für den Mittelstand. Wiesbaden: Springer-Gabler., Hahnzog, S. (2018). Gesund und glücklich arbeiten – Gefährdungsbeurteilung psychischer Arbeitsbelastung. In: M. Pfannstiehl & H. Mehlich (Hrsg.). BGM – Ein Erfolgsfaktor für Unternehmen. Wiesbaden, Springer.

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