Wann ist Lügen erlaubt?
1. Familienangelegenheiten: Das Zeugnisverweigerungsrecht
Stellen wir uns vor, jemand wird vor Gericht geladen, um gegen einen engen Verwandten auszusagen. In solchen Fällen bietet das deutsche Recht ein besonderes Schutzrecht: das Zeugnisverweigerungsrecht. Nach § 52 der Strafprozessordnung (StPO) dürfen bestimmte Angehörige – wie Ehepartner, Verlobte oder nahe Verwandte – die Aussage verweigern. Das bedeutet, sie müssen weder die Wahrheit sagen noch lügen, sie dürfen einfach schweigen.
Beispiel: Lisa wird vor Gericht geladen, weil ihr Bruder Max eines Diebstahls verdächtigt wird. Lisa kann die Aussage verweigern, da sie als Schwester ein Zeugnisverweigerungsrecht hat. Selbst wenn sie etwas sagen würde, das nicht der Wahrheit entspricht, würde sie in diesem Fall nicht bestraft werden, solange sie nicht unter Eid steht.
2. Notwehr und Notstand: Lügen als Schutz
Es gibt Situationen, in denen das Lügen als eine Form der Selbstverteidigung betrachtet werden kann. Das deutsche Recht kennt den Begriff der Notwehr (§ 32 StGB) und des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB). Diese Prinzipien erlauben es, eine Lüge als Mittel zur Abwehr einer unmittelbar drohenden Gefahr einzusetzen.
Beispiel: Peter wird von einem bewaffneten Räuber bedroht, der ihn zwingt, die Kombination zu seinem Safe zu verraten. Peter gibt bewusst eine falsche Kombination an, um den Räuber zu verwirren und Zeit zu gewinnen. Diese Lüge wäre durch Notwehr gerechtfertigt, da Peter sich in einer lebensbedrohlichen Situation befindet.
3. Werbung und Marketing: Zwischen Wahrheit und Übertreibung
In der Werbung wird oft übertrieben, und nicht jede Übertreibung ist automatisch strafbar. Das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) zieht die Grenze dort, wo die Werbung irreführend wird.
Beispiel: Ein Hersteller von Hautcremes behauptet, seine Creme könne „die Zeichen des Alters verschwinden lassen“. Solche Aussagen werden oft als zulässige Übertreibungen betrachtet, solange sie nicht völlig unwahr oder irreführend im Sinne des § 5 UWG sind.
4. Arbeitsrecht: Schutz der Privatsphäre
Im Arbeitsrecht gibt es Situationen, in denen man lügen darf, insbesondere wenn es um die Wahrung der Privatsphäre und den Schutz persönlicher Informationen geht. Ein klassisches Beispiel ist die Frage nach einer Schwangerschaft im Bewerbungsgespräch. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts darf eine Frau auf diese Frage lügen, da sie irrelevant für die Eignung und Fähigkeiten für den Job ist und eine Diskriminierung darstellt.
Beispiel: Anna bewirbt sich auf eine Stelle und wird im Vorstellungsgespräch gefragt, ob sie schwanger ist. Sie verneint dies, obwohl sie tatsächlich schwanger ist. Diese Lüge ist im Arbeitsrecht erlaubt, um ihre Privatsphäre zu schützen und Diskriminierung zu verhindern.